Wir sind seit Donnerstag (07.06.2018) in Finnland und seit Donnerstagabend in Rovaniemi – der angeblichen Heimat des Weihnachtsmannes. Die Stadt selbst ist keine Schönheit, sie wurde 1945 komplett zerstört, gesprengt und verbrannt. Die meisten Häuser in der Innenstadt sind Stein- bzw. Betonbauten, die eher funktional als ansehnlich wiederaufgebaut wurden. Wer jedoch die Tristesse von Herne oder Wanne-Eikel mag, wird auch Rovaniemi lieben.
Da ich das erste Mal überhaupt in Finnland bin, gebe ich diesem Land die Chance, aus seiner Schublade herauszukommen. Ein Teil des Interiörs meiner Finnland-Schublade hat sich schon bestätigt, ein anderer wiederum nicht. Schon die Fahrt hierher war eine Fahrt durch endlose Wälder, die kaum Höhenunterschiede und damit keine Aussichtspunkte (oder Höhepunkte?) haben. Man könnte sagen, schöne weite herrliche Landschaft mit Wälder und ein paar Seen zwischendrin, Stille, Ruhe, Weite – hätte unser VW-Bus einen Autopiloten, könnte wir ihn mit reinem Gewissen einschalten, ein gemütliches Nickerchen auf der Fahrt machen und wir hätten nichts verpasst. Hier oben möchte ich nicht Radfahren, nein wirklich nicht. Morgens aufstehen, durch den Wald fahren, abends im Wald ankommen, im Wald schlafen und das tagelang. Wir haben heute einen Radreisenden getroffen, der von Helsinki in 11 Tagen hierhergefahren ist. Er hat uns diese Vermutung genauso bestätigt. Da er aber schon seit einem Jahr unterwegs ist, von China nach Indonesien geradelt ist, um dann von Bali nach Helsinki zu fliegen und dann ans Nordkap zu radeln, ist er wahrscheinlich schon einiges gewohnt und gehört zu einer besonderen Kaste.
Im tristen vorsommerlichen Rovaniemi, sahen wir schon um die Mittagszeit, betrunkene Jugendliche durch die Stadt torkeln – Schublade bedient: Lange Winter, hohe Arbeitslosigkeit im Norden, hohe Depressions-, Alkoholismus- und Suizidrate. Bei der Wanderung heute durch den Wald, haben uns die meisten Wanderer fast nie zurückgegrüßt, …
Die Finnen jedoch, die wir kennengelernt haben bzw. mit denen wir uns unterhalten haben, waren zumeist humorvoll, zuvorkommend und immer freundlich und offen. Da war zum Beispiel die nette Frau im Martinii-Messerladen, die uns ein paar finnische Wörter beigebracht hat. Oder Niina, die eigentlich an der russischen Grenze wohnt und dort günstig tanken kann, aber zurzeit beim Weihnachtsmann am Polarkreis als Wichtel ihr Geld verdient. Wir haben auch sehr viele sportliche Leute gesehen, die Joggen, Sommerski fahren, Mountainbiken oder Trail-Running betreiben. Der Eindruck ist, dass man hier einfach draußen etwas unternehmen muss, um nicht in den langen Wintern unterzugehen. Der Sommer fängt hier ja erst in Juli an….
Die kalte Temperatur (so um die 10 Grad tagsüber) und der Wind haben uns immerhin vor dem angesagten „Moskito-Storm“ bewahrt. Da der Mai so warm war, gab es hier beste Bedingungen für die kleinen Flieger und die Einheimischen sagten uns, dass es in den nächsten Wochen hier sehr extrem werde und man die Kinder dann kaum rauslassen könne.
Was die Temperatur angeht, kann man sich interessanter Weise an fast alles gewöhnen. Während wir anfangs noch die „Kollegen“ beneideten, die ihre Standheizungen die ganze Nacht hindurch bullern lassen, sitzen wir jetzt schon ohne Wollmütze im Bus und Joggen mit kurzen Hosen am Fluss. Dazu muss man wissen, dass bei uns (ohne Standheizung) die Innentemperatur in kurzer Zeit mit der von außen sympathisiert. Ehrlich gesagt sind wir aber schon dankbar, dass es nachts bis jetzt noch nicht unter null Grad war – aber vielleicht würden wir uns auch daran gewöhnen. Und wirklich dankbar sind wir, dass es bis jetzt nur punktuell etwas Regen gab.
Vor uns in nördlicher Richtung liegt der finnische Teil Lapplands und eigentlich sind wir schon mitten drin. Ganz ehrlich, wir haben aber keine Lust mehr stundenlang durch Wälder zu fahren, nur um nördlicher zu kommen. Mittlerweile treffen wir auch immer mehr Reisende, meist Wohnmobilisten. Auf die Frage, wo es denn hin gehe, bekommen wir stets die gleiche Antwort: Nordkap. Mit diesen Nordkapfahren, die zum Teil morgens schon vor 8 Uhr aufbrechen, können und wollen wir uns nicht messen. Unsere tiefe Sehnsucht geht ganz klar landschaftlich ins Fjell, also den Bereich, der oberhalb der Baumgrenze liegt. Und das haben wir alle drei in diesen Tagen auf unterschiedliche Art und Weise gemerkt und gespürt. Erklärtes Ziel ist nun endlich Norwegen, dafür schlägt unser Herz.
Seit sechs Wochen haben wir uns ja mittlerweile auf die Folter gespannt – wobei diese Wochen auf jeden Fall unseren Horizont erweitert haben und wir sie nicht missen wollen. Jetzt freuen wir uns darauf Norwegisch zu sprechen (in Schweden ging es teilweise, hier in Finnland gar nicht), braunen Käse zu essen und im Fjell zu wandern (siehe „Petterson und Findus zelten“). Temperaturmäßig sind wir ja nun vorbereitet. Aber ein paar Tage brauchen wir sicher noch bis Tromsø, dem ersten Ziel in Norwegen – für dort sind die Temperaturen immerhin ab Donnerstag zweistellig prognostiziert.
Auch wenn wir die drei Tage in Rovaniemi gebraucht haben, um uns und unsere Tour innerlich zu sortieren, Ziele zu formulieren und die eigenen Bedürfnisse herauszufinden, geht es uns gut (nur Metti baut mehr und mehr ab…) und wir freuen uns auf die nächsten Etappen!
Auch leiden wir hier keinen Hunger und haben immer Lust auf lecker:
Ach ja, ob Finnland aus meiner Schublade herausgekommen ist? Ja, es ist aber bis jetzt noch in der gleichen Kommode geblieben.